„Super-GAU“: Die ultimative Katastrophe?

Gudrun Pausewang und die Realität



Kernkraftwerk Grafenrheinfeld (in Betrieb bis 2015). In Gudrun Pausewangs Roman „Die Wolke“ verursacht ein Unfall im Kraftwerk noch in Fulda Strahlenbelastungen im Bereich einiger Gray. Dies ist physikalisch nicht möglich.

Selbst wenn das Kraftwerk Grafenrheinfeld in laufendem Betrieb von irgendetwas pulverisiert worden wäre (was nur durch Einwirkung von außen, beispielsweise durch Angriff mit einer bunkerbrechenden Waffe geschehen könnte): Dass ein Mensch im über hundert Kilometer entfernten Fulda eine Dosis im Bereich 2 – 3 Gray erhält, mit Folgen wie Haarausfall, Immunschwäche, Diarrhoe u.a., ist keinesfalls realistisch. Dazu müsste das gesamte radioaktive Inventar des Reaktors konzentriert in der Umgebung von Fulda niedergehen. Strahlenbiologisch besteht der Roman „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang den Realitätstest nicht.

Strahlung kann Menschen gefährlich werden, wie zwei Diebe in Goiânia in Brasilien ganz ohne Kernkraftwerk feststellen mussten, als sie eine Cäsiumampulle aus einem alten Krankenhaus entwendeten und öffneten. Doch auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift. Plötzliche Belastungen im Bereich mehrerer Gray verursachen akute Strahlenkrankheit, bei höheren Werten sogar den Tod. Was geringere Dosen, über längere Zeiträume verteilt, bewirken, ist nicht so einfach zu klären. Doch es gibt hierzu Daten und Untersuchungen.

Wir sind ständig ionisierender Strahlung ausgesetzt: Aus dem All erreicht uns energiereiche kosmische Strahlung, in Gesteinen, Wasser, Nahrung, unseren eigenen Körpern finden radioaktive Zerfälle statt. An einigen Plätzen auf der Erde ist die Naturstrahlung sehr stark. So werden am Strand der brasilianischen Stadt Guarapari Werte von über 100 Millisievert pro Jahr gemessen. Wäre die Strahlung künstlichen Ursprungs, müsste man den Ort evakuieren: In Fukushima wurden 20 mSv/Jahr als Räumungskriterium festgelegt. Doch die Radioaktivität in Guarapari stammt aus dem thoriumhaltigen Monazitsand. Erhöhte Krebs- oder Mutationsraten wurden dort nie beobachtet. Dass natürlich und künstliche Strahlung sich unterschiedlich auswirken, kann ausgeschlossen werden: Aus der Quantenmechanik wissen wir, dass natürliche und technisch erzeugte Strahlen ununterscheidbar sind.

Früher ging man in der Strahlenbiologie von der LNT-Hypothese aus: „Linear, no Threshold“ — jede Strahlenbelastung ist schädlich, weniger ist immer gesünder als mehr, das Krebsrisiko steigt linear mit der Dosisleistung (aufgenommene Energie pro Zeit). Inzwischen ist diese These nicht mehr haltbar. Stattdessen wird das Hormesis-Modell bevorzugt: Bei geringen Dosisleistungen regt die Strahlung die Selbstreparaturmechanismen der Körperzellen an. Schwache Expositionen senken daher sogar das Krebsrisiko. Erst bei Werten oberhalb von 100 mSv/Jahr kann man ganz allmählich anfangen, sich Sorgen zu machen.

Die Evakuierung rund um das Kraftwerk Fukushima Daiichi war in dem Umfang, in dem sie durchgeführt wurde, überzogen und richtete mehr Schaden als Nutzen an. Die meisten Gebiete könnten wieder besiedelt werden. Kein einziger Japaner kam durch den Reaktorunfall zu schaden (ganz im Gegensatz zu Erdbeben und Tsunami, die 18.000 Todesopfer forderten). Auch Three Mile Island hatte keine feststellbaren Auswirkungen auf die Gesundheit der US-Amerikaner. Einzig die Kernschmelze in Tschernobyl forderte 30 Todesopfer und löste über 100 nichtletale Fälle von Strahlenkrankheit aus; ferner wurde bis 2005 bei 6000 Kindern und Jugendlichen in Weißrussland, Russland und den Ukrainen Schilddrüsenkrebs diagnostiziert, wobei zumindest bei einer Teilmenge der Reaktorunfall als Ursache vermutet werden kann.

30 Tote sind 30 Tote zuviel! Doch es gilt, die Perspektive zu wahren: Fast alle anderen Industriezweige rufen gefährlichere Unfälle mit mehr Opfern hervor, man denke an chemische Explosionen oder Dammbrüche. Auch sind nicht alle Kernreaktoren in gleichem Maße unfallanfällig.

Tschernobyl ist nicht überall



Blick über die Dächer der verlassenen Stadt Pripjat. Im Hintergrund erkennt man das Kraftwerk.

Man denke sich ein Auto, das beschleunigt, wenn der Fahrer bremsen möchte: So verhält sich der sowjetische RBMK-Reaktor, der 1986 in Pripyat havarierte. Dieser Typ verfügt über einen positiven Temperaturkoeffizienten: Erhitzt er sich, steigt die Reaktionsrate. Aktives Gegensteuern ist daher stets nötig; und es scheint wenig verblüffend, dass durch massive Fehlbedienung eine Katastrophe eintrat. In westlichen Ländern sind solche Reaktoren nicht zulassungsfähig. Ein moderner Druck- oder Siederwasserreaktor verfügt selbstverständlich über einen negativen Temperaturkoeffizienten: Wird er zu heiß, sinken Brennstoffdichte und Moderierung der Neutronen durch das sich ausdehnende Wasser. Dies drosselt die Spaltrate. Ein modernes Kernkraftwerk durch Reaktivitätsanstieg zu zerstören oder gar zur Explosion zu bringen, ist selbst bei absichtlicher Sabotage nicht möglich.

Allerdings kann der Reaktor durch Nachzerfallswärme, die die im Brennstoff eingeschlossenen Spaltprodukte hervorrufen, zum Schmelzen gebracht werden, dies geschah in Three Mile Island und Fukushima. Bei TMI gab es keinerlei Schäden außerhalb des Reaktorgebäudes. In Fukushima kam es zu signifikanter Freisetzung von Radiotoxizität, da in den Containmentgebäuden die im Westen vorgeschriebenen Wasserstoffrekombinatoren fehlten. Doch auch hier sind keine Todesfälle zu beklagen, Anstieg der Krebsraten dürfte unmessbar gering sein.

Aktuelle Kernkraftwerke schneiden in punkte Unfallsicherheit sehr, sehr gut ab. Doch Steigerung der Sicherheit ist möglich, was nicht nur die Akzeptanz der Technologie, sondern auch ihre Wirtschaftlichkeit erhöht: Wenn keine gestaffelten Sicherheitsvorkehrungen nötig sind, kann die Anlage kostengünstiger gebaut werden.